Mitten während des Stressmonats Dezember sind Nadja Scheiwiller und ich im MoschMosch, einem japanischen Restaurant am Marktplatz, verabredet. Am Abend wird sie die Hauptrolle in dem Musical „Flashdance“ spielen, welches gerade am Staatstheater Darmstadt zu sehen ist. Minute um Minute vergeht, während ich alleine meinen Kaffee trinke. Nach einer Dreiviertelstunde frage ich in einer Mail nach. Und bekomme eine sehr liebe Antwort, sie habe im Stau gestanden und mich vergessen, ob ich denn überhaupt noch Lust auf das Interview habe – natürlich!
Also treffen wir uns kurz vor Weihnachten noch einmal. Gleicher Ort, andere Uhrzeit. Für die Show heute ist sie aus Basel angereist.
Ich bekomme von ihr ein wenig Schweizerdeutsch beigebracht. Während der Zungenbrecher „Dr Papscht het ds Späck-Bsteck z’Spiez z’spoat b’stellt“ langsam und Wort für Wort für mich zu schaffen ist, ist es für mich bei „Chuchichäschtli“ vorbei. Da wir uns sowieso noch einmal sprechen wollen, habe ich damit gleich eine Aufgabe: Üben.
Sie lacht oft und viel, die Schweizer Musicaldarstellerin, die die Darmstädter Bühne erobert, und sie beschreibt sich selbst als offen, spontan, immer ein bisschen schusselig, zu spät, aber trotzdem ganz nett.
Ihre erstes Engagement hatte sie im Musical „Tarzan“ in Hamburg, in dem sie als Affe, Blume, Leopard und Jane mitspielte. Sie ist unglaublich dankbar für diese Rolle. Es war der Jackpot für sie, gleich nach der Ausbildung eine riesige Produktion mit Disney zusammen zu machen. Außerdem arbeitete sie dort als Assistant Flight Captain. Sie beschreibt diesen Beruf als „ich bringe den Leuten das Fliegen bei“. Wortwörtlich. Wie ein Dance Captain, der in Musicalproduktionen für das Niveau der Choreographien zuständig ist, hat sie als Assistant Flight Captain die Flugszenen mit den Darstellern geprobt, die Verantwortung dafür getragen und „auch in der Show immer wieder geguckt und geputzt, also gesagt, was nicht so gut läuft“. Am Anfang war das Fliegen für die gesamte Cast neu. Auch für sie. „Ich glaube, mein Vorteil war, dass ich geturnt habe und daher eine gute Körperbeherrschung habe.“
Vom Turnen war auch ihre Kindheit in der Schweiz „in einem kleinen, wunderschönen Dorf am Waldrand“ geprägt, die sie als Traumkindheit beschreibt. Sie schätzt es sehr, alle Möglichkeiten gehabt zu haben und weiß, dass das nicht für jeden möglich ist, jeden Abend entweder Tanzunterricht, Geigenunterricht, Gesangsunterricht oder Akrobatik zu haben und am Wochenende noch zusätzlich mit den Pfadfindern unterwegs zu sein.
Was neben der Schule nach sehr viel klingt, hat sie jedoch nie als Stress empfunden, weil ihre Hobbys ihre Leidenschaft waren und sie schon damals wusste, dass das genau das ist, was sie später machen möchte. Sie denkt, hätte sie nicht so viele Hobbys gehabt, hätte sie nicht für die Schule gelernt. „Ich wusste immer, ich komme aus dem Gymnasium und habe 2 Stunden Zeit, in denen ich lernen muss, sonst kann ich da nicht hin. Wenn ich wusste, ich habe den ganzen Abend, habe ich meistens nichts oder weniger für die Schule gemacht.“
Relativ jung sah sie auch erste Musicals, nach denen sie dachte, dass sie das auch könne und wolle. So nahm sie nach dem Abitur an verschiedenen Aufnahmeprüfungen teil und wurde an der Joop van den Ende Academy in Hamburg angenommen.
Im Gegensatz zu vorher auf dem Gymnasium, wo sie sich nur auf Musik und Sport gefreut hat, fand sie hier „alles cool“ und hat eigentlich alle Fächer geliebt, zu denen Stepptanz, Jazzdance, Gesangsunterricht und Schauspiel gehörten. Nur beim Schauspiel musste sie sich zuerst überwinden: „Da hatte ich Hemmungen am Anfang.“
Aber gerade diese Vielseitigkeit liebt sie am Musical: „Ich wollte nicht nur Tänzerin werden, dann hätte ich eine Ballettausbildung machen müssen. Ich möchte alles verbinden und nicht nur in den 3 Sparten (Oper,Tanz,Schauspiel) denken. Trotzdem sind die das Alteingesessene, Musical gab es früher nicht und ist eher eine neue Form.“ Im Staatstheater Darmstadt spielen in Musicals auch Operndarsteller und reine Schauspieler mit, sie findet es toll, dass sich die Künste langsam öffnen.
Selbst wenn es keine Kunstform gäbe, in der man alles verbinden kann, ist sie sich sicher, sie hätte trotzdem etwas mit Musik und Sport studiert . Sie überlegt sich sogar, es noch zu tun, „aber das ist noch nicht sicher, ich kann es mir nur vorstellen“.
Auf jeden Fall macht sie sich Gedanken über die Zukunft, weil „was für Rollen kommen, weiß man einfach nicht“. Sie überlegt sich, was für ein zweites Standbein sie sich aufbauen könnte, weil die Rollen sich mit dem Alter verändern und es ein Loch zwischen den „jungen Mädel-“ und den „älteren Damenrollen“ gibt. „Das Loch werde ich auch bald erleben, ich bin um die 30, da kann ich noch die jungen Rollen spielen, aber nicht mehr 10 Jahre lang“.
Noch erlebt sie das aber nicht, denn sie ist bis September praktisch ausgebucht. Vor allem in Dezember war sie viel unterwegs, neben „Flashdance“ in Darmstadt wirkte sie an einigen Konzerten mit: In der Schweiz das Konzert „Winterreise“, in dem sie den Broadway-Liederzyklus „Dezemberlieder“ von Maury Yeston sang, sie nahm kürzlich einen Werbespot auf und gab Disney-Konzerte. Ab April wird sie noch einmal „Flashdance“ in Chemnitz spielen, danach wird sie die Rolle der Stephanie in „Saturday Night Fever“, dem auf dem Film basierenden Musical, in Tecklenburg übernehmen.
Der Nachteil von vielen Engagements ist das viele Herumreisen. Sie freut sich, gerade einmal zusammen mit ihrem Freund in der Schweiz, ihrer Heimat, zu sein. Aber obwohl dort Freunde und die Familie leben, fehlt ihr zum Erfülltsein die Arbeit. An den Orten, wo sie arbeitet, hat sie meistens das gleiche Problem, nur umgekehrt. Dennoch hat sie in Hamburg, der Stadt, in der sie ihre Ausbildung gemacht hat, einen guten Kompromiss zwischen Freunden und Job gefunden.
Um überhaupt ein Engagement zu bekommen, gehören Auditions, die Castings für eine Rolle, zu dem Job dazu. „Leider“, wie sie findet, denn „ich kann mich damit nicht so wirklich anfreunden. Es ist immer eine spezielle Situation, man ist nervös und weiß, dass man 3 Minuten hat um sich zu zeigen und es entweder klappt oder nicht“. Sie erzählt, eine Audition laufe so ab, dass nach der Anmeldung meistens ein Foto mit einer Karte gemacht werde, auf der man schreibt, woher man kommt. Nach einer Wartezeit dürfe man dann „rein“. Dort säßen an einem Tisch 10-20 Personen, manchmal auch weniger. Vor diesen Personen müsse vorgesungen werden. Ab und zu fingen sie auch an, mit dir zu arbeiten, was meistens ein gutes Zeichen sei. Wenn man danach nicht in den „Movement Call“ käme (dort tanzt man vor), sei man meistens raus. Dieses Prozedere wiederhole sich meist in einer zweiten Runde.
Eine spezielle Traumrolle, auf die sie sich bewirbt, hat sie aber nicht („das fragen mich soooo viele“). „Es gibt so viele tolle Sachen! Ich gucke immer, was kommt, und lasse mich überraschen. Wenn etwas Neues kommt, befasse ich mich damit und entscheide dann, ob ich zur Audition gehe. Ich kenne mich auch gar nicht so gut aus, weil ich die Musicals lieber spiele und mir in meiner Freizeit nicht so viele angucke.“
Ihre Freizeit nutzt sie zum einen um zu lesen, mit ihrem Freund Serien und gute Filme zu gucken („das übliche eben“), zum anderen, um Gesangsunterricht zu nehmen und zu trainieren. „Ich muss fit bleiben, und das ist Hobby und Weiterbildung für mich.“
Fit muss sie für ihre Rolle der Alex Owens in „Flashdance“ sein, mit der sie die Leidenschaft zum Tanzen teilt. „Ich bin nach jeder Show fix und fertig, aber es macht echt Spaß.“ Die Rolle begleitet sie schon lange, erst spielte sie Alex in der Schweiz, dann in Chemnitz, schließlich jetzt in Darmstadt, weil das Staatstheater die Produktion von dort übernahm. Sie beschreibt auch ihre Beziehung zu ihrer Rolle als „eine ganz gute“, weil sie viele Parallelen zu der toughen Alex sieht, deren größter Traum es ist, Tänzerin zu werden. „Das gibt es wahrscheinlich in jedem Leben, dass man einen Traum oder einen Wunsch hat, den man erfüllen möchte. Auch die Angst, ob man es dann wirklich machen soll. Gerade wenn man jung ist bei der Frage, ob man die Ausbildung machen soll, gerade wenn es etwas Künstlerisches ist. Da stand auch ich genau davor. Klar kommt Alex aus ärmlichen Verhältnissen, ihre Mutter war krank, der Vater Alkoholiker, das kenne ich nicht, aber die inneren Werte sind ähnlich. Wir haben beide eine harte Schale und einen weichen Kern. Sie ist tough, weil sie im Stahlwerk gearbeitet hat. Ich habe zwar nie dort gearbeitet, bin es aber auch, weil ich mit zwei Brüdern aufgewachsen bin, mit denen ich viel im Wald unterwegs gewesen bin und auf auf Bäume geklettert bin.“
Trotzdem ist sie vor der Show nicht mehr sehr aufgeregt, weil „ich es schon echt oft gespielt habe und mich ganz sicher fühle. Trotzdem ist immer so ein bisschen Kribbeln da, gerade, wenn du ein bisschen müde bist und ein bisschen Kopfschmerzen hast. Trotzdem funktioniert es dann eigentlich immer“.
Für „Flashdance“ muss auch sie immer funktionieren, weil es kein Cover für ihre Rolle gibt. „Ich weiss einfach, ich muss gesund sein, sonst findet die Show hier nicht statt. Und wenn irgendetwas wäre, haben wir alle keine Show und würden kein Geld verdienen. Das würden mir auch alle übel nehmen, deswegen bin ich einfach immer gesund. Ich war schon mal krank, aber da musste ich mich einfach pushen und mir etwas einwerfen. Ich hatte keine Stimme, also habe ich mir beim Arzt Kortison geholt. Das gehört leider mal dazu.“
Das unterscheidet „Flashdance“ von einer Long-Run Produktion wie „Tarzan“, wo sie selbst eines der Cover von Jane war. Ein anderer Unterschied ist, dass bei solch einer Produktion acht Mal pro Woche gespielt wird und „du es perfektioniert drin hast“. Die Herausforderung dabei ist jedoch, „dass es nach einem Jahr nicht so abgelutscht ist“.
Jedoch „im Staatstheater spielt man nicht jeden Tag. Bei den großen Abständen wird es dann schwierig, weil dann Schauspieler, Band und Technik nicht 100% zusammen sind.“ So kann es dann auch zu Pannen kommen: „Bei der zweiten „Flashdance“-Show gingen die Wände nicht auf, die hätten aufgehen müssen. Irgendwann sind sie dann aufgegangen, aber es stand das falsche Bühnenbild da. An Stelle der Wohnung meiner Oma waren da die Poledancestangen in der Bar. Ja, und dann dachte ich nur: Oma? Hallo? Nö, die ist wohl in der Bar am Poledancen. Im Nachhinein lachen wir alle natürlich darüber.“
Langsam geht es auf fünf Uhr zu, und sie muss ins Theater. „Ich habe jetzt Maske, die Haare werden eingedreht, du wirst geschminkt und die Perücke kommt auf. Dann mache ich mich warm, singe mich ein, stretche mich, drücke Energiepunkte, dann geht es los. Dann arbeite ich bis halb elf. Wir spielen dann, wenn andere Freizeit haben, an Wochenenden und Feiertagen.“
Nach der Show nimmt sie die Emotionen ihrer Rolle nicht mit nach Hause, „Du musst gucken, dass du da gleich wieder raus kommst. Aber ich analysiere, was ich das nächste Mal besser machen kann.“
Drei „Flashdance“-Shows später sehen wir uns spontan im Januar wieder über FaceTime.
Sie erzählt mir auch von ihrem aktuellen Alltag, in dem sie viel trainiert, weil sie „Flashdance“ in diesem Monat nur einmal spielen wird, und von ihren Unfähigkeiten: „Ich bin tollpatschig, ich falle oft mal über Sachen drüber, im Alltag fallen mir viele Dinge runter, ich schütte sie aus, da bin ich auch echt unfähig. Ein bisschen trottelig. Auf der Bühne bin ich nicht so, aber so im Alltag.“
Was sie im Alltag auch nicht ist, ist Fan von jemandem zu sein. „Es gib Menschen, die ich bewundere für das was sie tun und leisten, aber auch ein Weltstar wie Michael Jackson, da wäre ich nie zu ihm hingegangen und hätte vor der Tür gewartet. Ich bewundere seine Arbeit. Im Musicalbereich gibt es Willemijn Verkaik, die ich extrem bewundere für ihre Stimme und wie sie das durchzieht und ganz bescheiden ist. Es gibt auf jeden Fall Menschen, die ich bewundere und die meine Vorbilder sind.“ Ihrer Meinung nach hat jeder Mensch etwas Spezielles, was man von ihm lernen kann.
Dass man speziell von ihr einiges lernen kann, hat sie in unseren Gesprächen auf jeden Fall gezeigt.
(Beitragsbild (c) Brigitte Dorrick)
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